Sachverstand und Voreingenommenheit von Gerhard Jarosch
Ist die Anklage um jeden Preis das primäre Ziel der Staatsanwälte? Erstatten Sachverständige ihre Gutachten in vorauseilendem Gehorsam um dieses Ziel zu unterstützen? Die öffentliche Diskussion der letzten Wochen, getragen von manchen Strafverteidigern erweckt diesen Eindruck, geht aber an der österreichischen (und kontinental-europäischen) Realität absolut vorbei. Es scheint manchmal, dass die in Hollywoodfilmen gezeigte Wirklichkeit des US-amerikanischen Systems in den Köpfen mancher Rechtsanwälte die Kenntnis vom eigenen System vernebelt hat. Rudolph Giuliani wurde zum Bürgermeister von New York gewählt, weil er als Staatsanwalt einige Mafiabosse und Wirtschaftsverbrecher erfolgreich verfolgte. Die Einstellung dieses Verfahrens wäre ein Misserfolg gewesen. Ein Freispruch schlichtweg eine Katastrophe für seine politische Karriere. Das Prinzip der Amtswegigkeit, also die Verpflichtung, jeden Verdacht aufzuklären, gibt es in den Vereinigten Staaten nicht. Das Prinzip der Objektivität gilt für amerikanische Staatsanwälte nicht in unserem, allumfassenden Sinn. Will ein Staatsanwalt in den USA Karriere machen, muss er wenig aussichtsreiche Verfahren niederschlagen („no public interest“) und aussichtsreiche Anklagen publikumswirksam zu spektakulären Verurteilungen bringen. Ohne werten zu wollen – das ist nicht unser Zugang. Nach § 3 StPO haben Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft und Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu auch alle der Verteidigung des Beschuldigten dienenden Umstände mit der gleichen Sorgfalt zu ermitteln. Sie haben objektiv zu sein. Sachverständige sind aufgrund ihres abgelegten Eides nach § 5 SDG und der parallelen Bestimmung in § 127 Abs 2 StPO dazu verpflichtet, Befund und Gutachten nach bestem Wissen und Gewissen und nach den Regeln ihrer Wissenschaft abzugeben. Auch sie haben objektiv zu sein. Für alle Genannten gilt, dass ein bewusstes Abweichen von der Objektivität zu disziplinären und auch zu strafrechtlichen Konsequenzen führen kann. Die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens ist für einen österreichischen Staatsanwalt kein Misserfolg, die Anklage kein Erfolg. Ein Erfolg ist vielmehr, nach einem so gründlich wie nötig und so zügig wie möglich geführten Ermittlungsverfahren eine wohl begründete Erledigung zu erreichen, die dann auch bei Einstellung einem Fortführungsantrag stand hält, oder nach Anklage in der Hauptverhandlung zur Verurteilung führt. Auch ein Freispruch, der auf neuen Beweisen in der Verhandlung beruht, die bei aller Sorgfalt im Ermittlungsverfahren nicht bekannt waren, ist keinerlei Schmach für den Staatsanwalt. Mit anderen Worten: Das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens ist gleichgültig, solange es gründlich erhoben und sachlich wie rechtlich richtig begründet wurde. Das, und nur das zeichnet einen österreichischen Staatsanwalt als erfolgreich aus. Die langjährige Statistik zeigt, dass etwas mehr als die Hälfte aller Verfahren eingestellt werden. Das war vor der StPO-Reform so und hat sich seither nicht geändert. Die Staatsanwälte haben somit auch in ihrer neuen Rolle kein Interesse, dass ein Ermittlungsverfahren zu einem bestimmten Ergebnis führt. Wenn aber die Sachverständigen in völliger Unkenntnis des Gesagten und Abkehr von ihrer eigenen Verpflichtung zur Objektivität nun glauben, dass sie den vermeintlich anklagefreudigen Staatsanwälten willfährig die zur Anklage nötige Argumentation liefern müssen? Schon im zahlenmäßig bedeutsamsten Fall der Gutachtenserstattung der (gerichts-)medizinischen Fragestellung ist das geradezu absurd. Ob etwa eine Gesundheitsschädigung mehr oder weniger als vierzehn Tage andauerte oder die Verletzungsfolgen als leicht oder schwer einzustufen sind, ist schlicht und ergreifend objektiv zu überprüfen. Kein Staatsanwalt oder Sachverständiger hat dabei Präferenzen. Gleiches gilt für alle anderen alltäglichen Verfahren, in denen Sachverständige zur Unfallanalyse, Urkundenbegutachtung oder psychiatrischen Untersuchung beigezogen werden. Die Diskussion über die Sachverständigenbestellung entstand im Zusammenhang mit den vergleichsweise wenigen, aber oft clamorosen Wirtschaftsverfahren. Wenn die eingangs beschriebene Hypothese stimmt, müssten wohl weit mehr als die Hälfte aller Ermittlungsverfahren in Wirtschaftsstrafsachen samt Gutachten zu Anklagen führen. Tun sie aber nicht. Auch hier wird etwa die Hälfte eingestellt. Wie in allen anderen Verfahren. Somit entbehrt die behauptete Notwendigkeit der Sachverständigenbestellung durch den Haft- und Rechtsschutzrichter jeder Grundlage. Im Übrigen ist die herangezogene „Waffengleichheit“ in der Hauptverhandlung – und nur dort sind Staatsanwalt und Verteidiger Prozessparteien – schon durch die Möglichkeit gewahrt, auf Seiten der Verteidigung einen mit vollem Fragerecht ausgestatteten Privatgutachter beizuziehen. |